Thema: Woher kommt die

18.09.2020 07:29
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Geschätzte Fachlleute

Neuere alpenländische Volksmusikstücke haben in der Regel drei Teile in drei verschiedenen Tonarten, die in dieser Reihenfolge gespielt werden:

ǁ: 1. Teil beispielsweise in C-Dur :ǁ

ǁ: 2. Teil in G :ǁ

Wiederholung 1. Teil in C

ǁ: Trio in F :ǁ

Wiederholung 1. Teil in C

ǁ: Trio in F :ǁ

Es gibt den scherzhaft gemeinten Begriff "Böhmische Sonatenform" dafür,

geprägt vielleicht von Volker Derschmidt (?).

Ältere Instrumentalstücke bestehen dagegen oft aus mehr Teilen, Tonartenwechsel sind seltener.

Die Reihenfolge der Teile ist bei jedem Stück separat festgelegt.

Weiß jemand wann und wie (durch wen) sich diese Reihenfolge in unserem Kulturkreis festgesetzt hat?

Sind die Harmonikaspieler schuld, die stets beweisen wollen, dass sie auf drei Reihen zu spielen imstande sind?

Besten Dank im Voraus für allfällige Antworten!

Christian

18.09.2020 10:13
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Servus Christian,

ich hab deine Frage mal "in die Runde" geschickt und sehr schnell von Franz Schötz (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege) folgende Antwort erhalten:

iconZitat:Diesen Begriff kenne ich nicht. Die Praxis allerdings ist mir natürlich bestens vertraut. Sie wird von Musikanten als "X-Dur rundum" bezeichnet.

Ich denke nicht, dass es die Harmonikaspieler waren, die diese Praxis aufgebracht haben, sondern dass sich eher umgekehrt die dreireihige Harmonika wegen dieser bereits bestehenden Form entwickelt hat.

Sie hängt sicher zusammen mit der Rondo-Form (Sonaten-Rondoform) der Kunstmusik.

18.09.2020 20:56
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Servus Walter,

vielen Dank für die rasche Antwort!

Jetzt wär' nur noch interessant, wann und wo dieses "X-Rundum-Rondo" zum ersten Mal aufgetaucht ist.

19.09.2020 10:27
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Bei mir heißt es Rondo (siehe Wikipedia) oder Rondo-Form. Das hab ich auch vom Volker Derschmidt. X-Dur rundum kenn ich bei uns nicht. Aber mir fällt auf, dass praktisch alle Notenschreiber jetzt diese Form verwenden, allenfalls durch einen 4. Teil ergänzt. Das ist halt modern geworden.

Die Rondo-Form gibt es in der Kunstmusik schon seit dem 17. Jahrhundert. Ob sie damals schon in der Volksmusik gebräuchlich war, erinnert mich an die alte Frage, ob die Henne oder das Ei früher da war. Man müsste halt in alten Aufzeichnungen nachforschen, etwa in Sonnleitner-Sammlung oder Knaffl-Handschrift. Kann ich derzeit aus Corona-Gründen nicht.

Aber - es wurde immer gespielt, was auf dem jeweiligen Instrument möglich war. Und am Dudelsack war halt weniger möglich als auf der ja in der Volksmusik schon lang vor der Steirischen verbreiteten Geige.

19.09.2020 10:57
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Der Ausdruck „Böhmische Sonatenform“ ist mir noch nie untergekommen. Gemeint ist wohl der Aufbau böhmischer Polkas mit folgendem Schema:

ǁ: Teil A (in der Tonika) :ǁ

ǁ: Teil B (in der Dominante) :ǁ

Teil A (ohne Wiederholung)

ǁ: Teil C = Trio (in der Subdominante) :ǁ

Kürzel für den Ablauf: 11 22 1 33 oder AA BB A CC, d. h.: 1. Teil zweimal, 2. Teil zweimal, 1. Teil einmal, 3. Teil zweimal.

Mit der Sonatenform der Wiener Klassik besteht da kein Zusammenhang.

Dieser Aufbau von Tanzmelodien wird in der Wiener Tanzmusik etwa in den 1820 - 1840er Jahren bei 2/4-Takt-Melodien üblich: Polka française, Galopp, Polka schnell. Er bietet den Musikanten und dem Zuhörer eine Abwechslung: 3 verschiedene Melodien und Abwechslung in den Tonarten.

Dagegen sind Wiener Walzer folgendermaßen aufgebaut:

Introduktion

5 Walzer mit jeweils 2 Teilen zu jeweils 16 Takten:

Walzer 1 ǁ: A :ǁ   ǁ: B :ǁ

Walzer 2 ǁ: C :ǁ   ǁ: D :ǁ

Walzer 3 ǁ: E :ǁ   ǁ: F :ǁ

Walzer 4 ǁ: G :ǁ   ǁ: H :ǁ

Walzer 5 ǁ: I :ǁ    ǁ: J :ǁ

Coda, hier klingen die einzelnen Walzer in verkürzter Form nochmal an.

Die ländlichen Tanzmusikanten haben solche Walzer in der Regel so gespielt:

Keine Introduktion

Die Walzerteile wurden abwechselnd gespielt: z. B. der Flügelhornist spielt Walzer A, der Trompeter spielt Walzer B usw.

Von dieser Spielweise leitet sich die Bezeichnung „Halbwalzer“ ab, weil eben der Flügelhornist nur den „halben Walzer" 1, der Trompeter die zweite Hälfte des Walzers 1 spielt.

Solche Walzerteile wurden in Reihung in Notenhefte geschrieben, getrennt nach 1. und 2. Teilen.

Die gleiche Praxis findet sich auch bei Melodien im 2/4-Takt. In einzelnen Gegenden wurde diese Spielpraxis mit „Schnurren“ bezeichnet, z. B. im Landkreis Landsberg, rund um Augsburg, Aichacher Land.

Walzer-Melodien in der Bauform AA BB A CC (siehe oben) tauchen in Volksmusik vorzugsweise erst im 20. Jahrhundert auf. Da in der Volksmusik nach dem Trio gerne nochmals der 1. Teil gespielt wird, ergibt sich ein dem Kettenrondo ähnlicher Aufbau: AA BB A CC A

Beim Kettenrondo wechselt der Hauptteil (Ritornell, Refrain, Kehrvers) mit eingeschobenen Zwischenteilen (Couplet) ab:

Beispiel: A – B – A – C – A – D – A ……

Eine Verbindung zur eigentlichen Rondoform mit A – B – A’ – C – A – B – A’ sehe ich aus Symmetriegründen nicht.

19.09.2020 18:53
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Grüß Euch Franz und Erich

vielen Dank für die detailierten Antworten!

Jetzt weiß ich mehr :w00t:

Auch woher die Bezeichnung "Halbwalzer" kommt, war interessant zu erfahren :thumbup:

21.09.2020 17:46
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Ich habe (von Volker Derschmidt) eine andere Erklärung für den Namen Halbwalzer: Ein Ländler hatte ursprünglich immer 8 Takte, ein komponierter Walzer 32 oder sogar 64 Takte. Eine Walzermelodie mit 16 Takten dauert nur halb so lang wie ein Wiener Walzer, daher wurde das früher zwischen Oberösterreich und Bayern Halbwalzer genannt.

21.09.2020 20:48
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Diese Erklärung ist nicht schlüssig, denn die frühen Walzer bei Michael Pamer, Josef Lanner und Johann Strauß Vater hatten 8-taktige, gelegentlich sogar 12-taktige Teile. Als das Walzen, der paarweise und von der Obrigkeit verbotene Rundtanz des Landvolkes, die Parkettböden des Adels und der gehobenen Bürgerschaft ab dem Wiener Kongress eroberte, konnte man die Drehbewegung schneller ausführen, was eine Steigerung des Tempos und eine Erweiterung der 8-taktigen ländlerartigen Walzerteile zu 16-taktigen Einheiten zur Folge hatte, z. B. Josef Lanner "Die Schönbrunner", Johann Strauß Vater "Täuberin" op. 1. Dieser Walzertypus, bestehend aus Introduktion, mehreren Walzernummern und Coda beherrschte die Tanzsäle ab etwa den 1830er Jahren, wobei jede Walzernummer aus zwei Melodieteilen (Nr. 1: A, B / Nr. 2: C, D / Nr. 3: E, F usw.) mit in der Regel 16 Takten bestand. Für die ländlichen Tanzmusikanten, insbesondere für die Blechbläser war es zu anstrengend, solche Walzer von Anfang bis zum Ende durchzuspielen, weshalb ein Melodiespieler von einer Walzernummer nur den Teil A, ein anderer den Teil B usw. spielte. Und der Teil "A" ist eben nur die Hälfte von Walzer Nummer 1.

Die Behauptung, dass der Wiener Walzer 32 oder gar 64 Takte aufweise, ist nicht allgemeingültig. Die Mehrzahl der Wiener Walzer ist so aufgebaut wie oben beschrieben. Eine Walzernummer hat zwar insgesamt 32 Takte, besteht aber aus zwei von einander abgegrenzten Walzern zu 16 Takten. Erst bei den späteren großen Konzertwalzern kommen noch größere Baueinheiten mit 32 Takten vor, z. B. bei "An der schönen blauen Donau". Da demnach im Wiener Walzer des 19. Jahrhunderts Melodieteile mit 8, (12,) 16 und 32 Takten vorkommen, erscheint eine Herleitung der Bezeichnung Halbwalzer von der Länge der einzelnen Teile ist nicht schlüssig.

22.09.2020 08:28
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Vielen Dank für die interessanten Ausführungen!

Besten Dank auch für die Nennung des Namens Michael Pamer, der ist mir bis jetzt noch nicht untergekommen.

Joseph Gung'l (1809 - 1889) wär' auch ein Vertreter aus dieser Ära, der an der Grenze zwischen Volks- und Kunstmusik dahinkomponiert hat.

Die Täuberln Op. 1 von Strauß bzw. Strauſs hab' ich schon g'funden auf

https://imslp.org/wiki/T%C3%A4uberln-Walzer%2C_Op.1_(Strauss_Sr.%2C_Johann)) :thumbup:

ebenso Werke von Michael Pamer

https://imslp.org/wiki/Neue_brillante_Solo_L%C3%A4ndler_(Pamer%2C_Michael)

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